Authentizität der Schriften
Bilden die Schriften die zuverlässige Wiedergabe dessen,
was Barbara Weigand in ihren Ekstasen gesprochen oder in ihren Visionen geschaut
hat? Haben die Schreiber die Aussprüche der Visionärin wiedergegeben? Oder haben
sie daran Änderungen vorgenommen? Haben sie vielleicht Teile dieser Reden unter-schlagen?
Haben sie aus Eigenem hinzugefügt? Soweit die Visionärin selber als Schreiberin
in Betracht kommt, ist die Beantwortung der Frage nicht schwierig: Sie hat ja ihre
Aufzeichnungen erst geraume Zeit nach den Ekstasen aus dem Gedächtnis gemacht, kann
also, zumal angesichts des oft recht umfangreichen Stoffes, auch trotz ihres sehr
guten Gedächtnisses unmöglich alles wortwörtlich wiedergegeben haben, was sie vorher
gesehen, gehört oder gesprochen hatte. Anders aber liegen die Dinge bei Hannappel
und den Hausgenossen, vorab bei ersterer, welche für die meisten Aufzeichnungen
in Betracht kommt. Da ist nun von vornherein die Vermutung abzuweisen, als ob Hannappel
absichtlich das Gehörte anders aufgeschrieben habe als es an ihre Ohren drang, oder
daß sie absichtlich die rasch hingeworfenen Aufzeichnungen bei der Reinschrift entsprechend
zurecht frisiert hätte.
Schon gegenüber der geistlichen Behörde in Mainz wie auch im Jahre 1921 gegenüber
dem Ordinariat Würzburg erklärte sich Hannappel bereit, einen Eid abzulegen: 1.
daß sie die schöne Form nicht hinzugetan, 2. überhaupt keine Form und nichts Wesentliches,
sondern, daß die formvollendeten Vorträge ganz das Werk der Barbara Weigand sind,
3. daß sie nichts nach eigenem Ermessen abgeändert, erweitert, verschärft habe,
4. daß sie mit größter Gewissenhaftigkeit alles so aufgeschrieben habe, wie das
Diktat an ihr Ohr gedrungen sei.“ Wohl sei es möglich, daß bei dem schnellen Diktat
und wegen oftmaligen Straßenlärms hie und da ein Wort, ja halbe und ganze Sätze
ausblieben, was jede Zweideutigkeit ausgeschaltet hätte. „Durch einen Tadel des
Herrn veranlaßt, habe ich hie und da ein einziges Wort, das einen offenkundigen
Fehler enthielt, oder ein Bindewort wie „und“, wo es fehlte, beigefügt oder ein
unrichtig platziertes Zeitwort an seine Stelle gesetzt.“ Wenn die Ekstase vorbei
war, habe sie mit den Hausgenossen, mit Frau Weigand und den drei Mädchen, mit größter
Ehrfurcht die Sache noch einmal durchgegangen, um zu prüfen, ob alles genau mit
dem Gesprochenen übereinstimme und ein oder das andere Wort, das sie zusammen noch
wußten, beigefügt. Seitdem sie geläufig habe stenographieren können, habe sie ohnehin
alles wörtlich aufnehmen können.
Die Gewissenhaftigkeit der Luise Hannappel beim Aufzeichnen des Gehörten wird „an
Eidesstatt“ in einer feierlichen Erklärung auch von Maria Weigand bezeugt, die den
Ekstasen ihrer Tante regelmäßig beiwohnte, und auch von P. Felix Lieber O.F.M. bestätigt,
der seit 1909 die Seelenleitung der Visionärin hatte. Dieser Pater schrieb mir hierüber
wörtlich: „Gleich zu Anfang, als meine Wenigkeit 1909 die Seelenleitung der Barbara
Weigand übernahm, forderte ich von der Schreiberin, Fräulein Hannappel, Rechenschaft
über die Art und Weise, wie sie niederschrieb. Ich muß hiermit offiziell bezeugen,
daß sie das mit der größten Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit tat, ohne von dem
Ihrigen ein Wort beizufügen oder etwas eigenmächtig auszulegen oder zu erklären.
In zweifelhaften Fällen fragte sie (selbst in meiner Gegenwart) die Barbara Weigand,
wie Sich der Herr oder die Muttergottes ausgedrückt hatte; und was nicht mehr zu
ermitteln war bei späteren Mitteilungen, ließ sie es eben dabei, so daß ich sagen
muß: Sie war beim Niederschreiben der Mitteilungen durchaus gewissenhaft, ich möchte
fast sagen: Skrupulös, wie ich das bei verschiedenen Gelegenheiten in der Zeit meiner
Seelenleitung feststellen konnte.“
Es liegt sonach kein Grund vor, die Ehrlichkeit der Schreiberin in Zweifel zu ziehen.
Daß Luise Hannappel gewissenhaft zu Werke ging, mag man auch daraus sehen, daß sie
Aussprüche, die offenbar nicht übernatürlichen Ursprungs waren, nicht unterschlagen
hat, was ihr doch ein Leichtes gewesen wäre. Wo Hannappel stenographisch mitschrieb,
dürfte somit der Text Anspruch auf größtmögliche Authentizität erheben. Aber man
darf auch nicht übersehen, daß sie in vielen Ekstasen nicht stenographisch, sondern
kurrent oder nur bruchstückweise oder überhaupt nicht schrieb, oder daß nur die
Schwägerin und die Dienstmädchen in ihrer unbeholfenen Art schrieben. In allen diesen
Fällen kann von wortgetreuer Wiedergabe natürlich keine Rede sein. Selbst Hannappel
gibt wiederholt ausdrücklich zu, wegen des starken Redestroms der Visionärin nicht
mitgekommen zu sein. Ein Beispiel dazu: „Am Feste Christi Himmelfahrt war der Redefluß
so gewaltig, daß nicht mitzukommen war und vieles verlorenging“, oder aber: „Der
Redefluß war heute so stark, daß Schreiberin mehrmals einen Satz fahren lassen mußte,
um gleichen Schritt halten zu können.“ Vieles verdankt seine Wiedergabe überhaupt
aus dem Gedächtnis von Luise Hannappel. Wenn so auch manche Stellen in den Schippacher
Schriften der Authentizität entbehren, so muß doch das allermeiste als Ausspruch
der Jungfrau anerkannt werden; Barbara hat sich auch zeitlebens zu ihren Schriften
bekannt. Wenn man aber Sätze aus diesen Schriften verketzern wollte, wie es ehedem
von ihren Gegnern geschah, so müßte man zuerst die Originalität und Authentizität
dieser Texte prüfen und, wo die Urheberschaft der Visionärin nicht eindeutig feststand,
sich an den alten Moral- und Rechtsgrundsatz halten: In dubio pro reo, anstatt die
Jungfrau Barbara aufgrund zweifelhafter Sätze zu verurteilen oder gar zu schmähen.
Das Schicksal, dem die von Barbara in der Ekstase gesprochenen Worte verfielen,
teilen sie übrigens mit jenen anderer Mystiker: Von den Offenbarungen der heiligen
Gertrud sind das erste Buch und der Schlussteil des Fünften Buches gar nicht von
Gertrud, sondern von einer ihrer Mitschwestern verfaßt; dem Schreiber der heiligen
Brigitta wird vom Heiland ausdrücklich gestattet, „um der Schwachen willen beizufügen,
was notwendig und nützlich sei“. Der heiligen Hildegard wurde in einem Gesichte
aufgetragen, ihre Offenbarungen aufzuschreiben, aber die Form von einem anderen
feilen zu lassen. Und auch von anderen heute hochgeehrten Heiligen wissen wir ähnliches.
Privatoffenbarungen gehören nach katholischem Verständnis zu den Möglichkeiten,
durch die Gott, der Herr der Geschichte und aller Menschen, in das Leben eines Einzelnen
eingreifen kann. Wird ein Mensch solcher Offenbarung gewürdigt, wird er durch sie
in die Pflicht genommen. Er muß ihr im Glaubensgehorsam folgen. Dabei ist es möglich,
daß sie der Glaubensvertiefung und Lebenserhellung dieses Menschen in erster Linie
dient; das bedeutet, daß sie im „Material“ dieses Lebens wirksam ist und für andere
zunächst verborgen bleibt. So wurde die besondere mystische Lebensführung der heiligen
Theresia vom Kinde Jesu erst nach ihrem frühen Tod durch ihre Niederschriften bekannt.
Andere begnadete Menschen erfahren Offenbarungen, die mit einem ausdrücklichen Auftrag
in den Raum der Kirche und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit hinein verbunden
sind, wie wir es zum Beispiel aus dem Leben und Wirken der heiligen Hildegard von
Bingen und des heiligen Don Bosco kennen. Es gilt dabei zu bedenken, daß auch bei
echten Offenbarungen womöglich Elemente zu finden sind, die schwer verständlich,
unzulänglich und verzerrt erscheinen. Kritische Prüfung ist nötig, weil je und je
die begnadete Erfahrung im Rahmen der Möglichkeiten und Begrenzungen des begnadeten
Menschen, seiner Ausbildung, der geistigen, seelischen und geistlichen Weite oder
Enge gemacht wird. Deshalb ist mit Unschärfen und zeitbedingten Verengungen auch
bei echten Privatoffenbarungen zu rechnen. Vom Ganzen des Glaubens losgelöste Ausbrüche
des Unterbewußtseins dagegen, krankhafte Initiativen und schwärmerische Einbildungen
und punktförmige Aktivitäten sind kritisch zu ordnen und - so schwierig das im Einzelnen
auch sein mag - in ihre Schranken zu verweisen. Den Rat des Thessalonicherbriefs
gilt es für die mitunter schwer durchschaubaren Zusammenhänge von Privatoffenbarungen
zu beachten: „Prüft alles, was gut ist behaltet“ (1 Thess. 5,21). Neben vielen und
oft schwierigen Fragen an die Person und die persönlichen Voraussetzungen der Visionäre,
bleibt doch eine unentbehrliche erste Klarstellung für die Echtheit einer Privatoffenbarung
leicht möglich. Sie lautet: bleibt das Gesagte im Rahmen der in Christus endgültig
geschehenen Offenbarung? Ist dagegen der Versuch zu erkennen, diese Offenbarung
des menschgewordenen Herrn zu korrigieren oder zu verbessern oder gar zu übertreffen,
haben wir gewiß keine echte Privatoffenbarung vor uns. Ebenso gehört die Bereitschaft,
sich dem Lehramt der Kirche, der die Verkündigung gültig übertragen ist, zu unterstellen,
zur glaubhaften Gestalt des Empfängers einer Offenbarung. Niemals kann es um modische
Neuheiten gehen; vielmehr muß das unausschöpfbare „Alte“ der Christusoffenbarung
neu gesagt werden, als Ruf in die Zeit, als Anstoß für das, was einer Epoche nötig
ist, als Verlebendigung des Handelns der Kirche aus der Kraft des einzigen und einmaligen
Evangeliums. So hat sich Vinzenz von Paul für die Priestererziehung und zeitgerechte
Formen in der Nächstenliebe leidenschaftlich eingesetzt, Pius X. konnte die Liturgie
und die tätige Anteilnahme der Gläubigen an der heiligen Eucharistie bis zum häufigen
Empfang der heiligen Kommunion beleben und Pater Maximilian Kolbe hat im grauenhaften
Dunkel der Menschenvernichtung durch sein Martyrium die Würde des Menschen aufleuchten
lassen. Spätestens hier zeigt sich der „prophetische“ Charakter jeder echten Privatoffenbarung.
Prophet meint hier nicht zuerst Zukunftswisser oder Zukunftsdenker. Vielmehr ist
mit dieser Bezeichnung jeder Christ gemeint, der seinen Glauben lebendig hält. So
werden beispielsweise heute jeder Mann und jede Frau, die ihre Ehe als endgültigen
christlichen Bund leben, zu stillen und unfanatischen religiösen Verkündern: zu
„Propheten“. Ebenso ein Meister, der seine Auszubildenden als Menschen achtet und
fördert, und jeder, der aus gläubiger Gesinnung nichts dem Gottesdienst vorzieht.
Alle sagen unaufdringlich durch ihr Leben auch etwas über die Zukunft: Die Eheleute
zeigen Gottes bleibende Liebe zu uns Menschen; der tüchtige Meister beweist die
Gottebenbildlichkeit seinem Auszubildenden und der glaubensentschiedene Gottesdienstbesucher
feiert die Nähe des ewigen Gottesreiches in unserer Welt.
Dann aber gibt es noch - neben dem Charisma, das alltagsnah die eigenen Gaben und
Fähigkeiten schlicht in den Dienst des Reiches Gottes stellt - das besondere Charisma
(Gnadengabe), den prophetischen Auftrag, die erwählende Offenbarung. Dieses prophetische
Charisma einer besonderen Erwählung zu einem besonderen Auftrag nennt Karl Rahner:
„Jene Einwirkungen des Geistes Gottes auf den einzelnen Glaubenden, die vom Menschen
her niemals erzwingbar, von den amtlichen Organen der Kirche nicht vorhersehbar,
durch die Setzung der Sakramente nicht erreichbar und dennoch immer und überall
benutzbar sind, weil sie, wie Amt und Sakrament, zum notwendigen und dauernden Wesen
der Kirche gehören“. Zu den zahlreichen Begnadeten in der Kirchengeschichte mit
ihrem großen geistlichen Auftrag gehört auch Barbara Weigand (1845 bis 1943).
Vor dem Hintergrund der Bemerkungen über Privatoffenbarungen lassen sich eindrucksvolle
Gründe für die Echtheit der besonderen Berufung erkennen, deren Barbara Weigand
gewürdigt wurde. Einige davon seien stichwortartig genannt: Barbara Weigand wächst
in einer ruhigen und das ganze Leben durchdringenden Frömmigkeit auf. Die kränkliche
Mutter, die zusätzliche Belastung des Vaters durch das Amt des Bürgermeisters und
die Fürsorge für die Geschwister machen Barbara zu einem arbeitsamen und verantwortungsbewußten
Mädchen mit starker Bodenhaftung. Trotz der Aussicht auf eine gute Partie ringt
sie sich zu einem jungfräulichen Leben durch. Fast unbegreifliche körperliche Leistung
vollbringt sie aus Sehnsucht nach der heiligen Kommunion: häufiger fünfstündiger
Gang nach Aschaffenburg (Kapuzinerkirche) und zurück, danach schwere Haus- und Feldarbeit.
Ein Höchstmaß an Fleiß und Arbeit übt sie in Schippach, dann ab 1885 für dreißig
Jahre in Mainz, wovon sie allein zwanzig Jahre in der Wirtschaft ihres Bruders und
weitere zehn Jahre in der Pflege einer nahen Verwandten zubringt, und ist dann wieder,
bis zu ihrem Tode, in Schippach. Opfer, Buße und Sühne für die eigenen und die Sünden
der Menschen, dazu oft auch als soziale Hilfe für Notleidende. In Barbara Weigand
wächst immer größere Leidensbereitschaft. Ihr umfassender Gebetsgeist übt ständig
das glühende Dankgebet und das Bittgebet für Lebende und Verstorbene. Zeitlebens
charakterisiert innigste Marienverehrung das Leben von Barbara Weigand. Dabei fällt
auf, wie glaubenssicher sie die Teilhabe am einzigen Erlöser- und Mittlertum Christi
in früher Zeit bereits ausspricht. Bei allen böswilligen Verdächtigungen und lügnerischen
Unterstellungen lebt sie nach dem Wort der Bergpredigt: „Selig seid ihr, wenn ihr
um meinetwillen beschimpft und verfolgt, und auf alle mögliche Weise verleumdet
werdet. Freut euch und jubelt, euer Lohn im Himmel wird groß sein“ (Mt. 5,11).
Die alles bestimmende Mitte des begnadeten Lebenswerkes von Barbara Weigand ist
ihr Ringen um die eucharistische Frömmigkeit; näherhin um die tägliche heilige Kommunion.
Spätestens an diesem fünfunddreißigjährigen Mühen bis zur weltkirchlichen Anerkennung
durch das Kommuniondekret des heiligen Papstes Pius X. zeigt sich die beständige
und allen Wechselfällen widerstehende große Berufung. Nachdem die häufige heilige
Kommunion längst liturgische Praxis geworden ist, scheint sich in einer Phase der
(vorsichtig gesagt) sich abkühlenden eucharistischen Frömmigkeit, die glühende Christusliebe
und eucharistisch geprägte Frömmigkeit der Barbara Weigand für die innere Reform
und missionarische Stärkung der Kirche im 3. Jahrtausend eine unerwartet neue Aktualität
zu bekommen. Die zahlreichen Visionen, Auditionen und Wegweisungen, die sie geschenkt
bekommen hat, liegen jetzt im Druck vor.
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